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Was ist “Borderline”?

Was ist “Borderline”?


Lucio Demetrio Regazzo, Alfried Längle


Abstract :


Die nosologische Bestimmung des Borderline-Syndroms ist auf Grund der jeweiligen klassifikatorischen Perspektive in mehrfacher Hinsicht problematisch. Es werden daher die wichtigsten Beschreibungsformen genannt, die strukturellen, kategorialen, dimensionalen und ätiopathogenetischen, und ihre Gesichtspunkte werden kritisch beleuchtet. Weiters werden Grundzüge der psychoanalytischen, kognitiv-verhaltenstherapeutischen und existenzanalytischen Theorien beschrieben. Abschließend werden Selbstschilderungen von Borderline Patienten bzw. ihrer Partner wiedergegeben.



Schlüsselwörter : Pathologie, Borderline-Störung, Klassifikation, Psychopathogenese, Existenzanalyse




What is “borderline”?


Lucio Demetrio Ragazzo, Alfried Längle


The nosologic definition of the borderline syndrome is in many ways problematic due to the respective classificatory perspective. Therefore, the most relevant forms of description are summoned (the structural, the categorical, the dimensional and the aetiopathogenetical), and their points of views are critically examined. Further, main concepts of Psychoanalysis, Cognitive behavioral therapy, and Existential Analysis are delineated. In conclusion, subjective accounts of borderline patients respectively their partners are presented.


Keywords: pathology, borderline disorder, classification, psychopathogenesis, Existential Analysis




Die Borderline-Befindlichkeit: Nosologische Herangehensweisen und theoretische Modelle im Vergleich


Versucht man, den Begriff „Borderline“ zu fassen, kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, in ein tückisches und schwer zugängliches Gebiet vorgestoßen zu sein. Denn schon auf den ersten Blick fällt auf, dass Schlüsselbegriffe oft unterschiedlich verwendet werden, was erheblich zur Verwirrung beiträgt.


Es wird in den Debatten ganz offensichtlich, dass wichtige Fragen dieser Störung, die immer häufiger auftritt und die trotz ihrer vielfältigen Facetten doch einen gemeinsamen Nenner zu haben scheint, noch immer offen sind. Ein relevanter Diskussionspunkt besteht in der Frage, ob eine nosologische Beschreibung eines pathologischen Borderline-Zustandes überhaupt möglich ist, oder ob dieser Terminus gewissermaßen nur eine Notlösung für alle jene Fälle darstellt, die man nicht besser diagnostizieren kann. Auf Grund dieser Kritik soll hier eine Auseinandersetzung mit der Problematik versucht werden. Dabei erweist es sich, dass es vier Beschreibungsformen für den nosologische Begriff „Borderline“ gibt. Diese sind die strukturelle, die kategoriale, die dimensionale und die ätiopathogenetische Herangehensweise. Jede zeigt spezifische Stärken und kritische Schwächen auf, die im Folgenden überblicksartig dargestellt werden, um der Problematik des Borderline-Begriffs näher zu kommen.



Das strukturelle Verständnis


Die Hauptstütze hat die heutige strukturelle Nosologie in der Theorie von Kernberg (1981; 1984), der die „Borderline Organisation“ als eine mögliche Persönlichkeitsstruktur von der neurotischen oder psychotischen Persönlichkeitsstruktur abgrenzt. Der Grund dafür besteht in seinem Verständnis einerseits in einem von den anderen Störungen abweichenden Entwicklungsprozess und andererseits in Unterschieden in den intrapsychischen Dynamiken, die insbesondere den Integrationsgrad von Identität, von den Arten der Abwehr und der Realitätsprüfung betreffen. Die strukturelle Diagnose beruht auf Schlussfolgerungen aus dem klinischen Gespräch, in welchem spezifische Aspekte des psychischen Funktionsniveaus von unspezifischen differenziert werden konnten.


Die strukturelle Klassifikation erweist sich zwar durchaus als klar und konsequent, doch könnte ein Hauptproblem dieser Diagnose genau darin bestehen, dass es sich um eine Gruppe von Störungen handelt, deren Grenzen zu weit gesteckt worden sind, so daß zu heterogene psychopathologische Bilder erfasst wurden. Tatsächlich hätten nämlich jene Persönlichkeitsstörungen, die der strukturellen Betrachtungsweise zufolge im DSM-IV-TR derzeit als Persönlichkeitsstörungen sowohl vom Typ A als auch vom Typ B klassifiziert sind, eine gemeinsame, darunter liegende organisatorische Struktur, die der Bezeichnung „Borderline“ entspricht. Vielleicht hat gerade dieser Aspekt mit der Zeit zu einer exzessiven und inadäquaten Verwendung des nosologischen Begriffs „Borderline“ geführt, weil man einer gewissen diagnostischen Verwirrung vorbeugen wollte.



Die kategoriale Klassifikation


Dagegen stellt die Klassifikation im DSM-IV-TR (APA 2001, bei der die Persönlichkeitsstörung „Borderline“ der Gruppe B in der Achse II zugesprochen wird, eine kategoriale Herangehensweise dar. Fünf der neun diagnostischen Kriterien sind ausreichend, um einen Patienten [1] in diese Kategorie einstufen zu können:


  • ein verzweifeltes Bemühen, ein reales oder imaginäres Alleinsein zu verhindern;
  • ein Muster von instabilen und intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen, das sich durch einen Wechsel zwischen extremer Idealisierung und Abwertung auszeichnet; Identitätsstörungen;
  • Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (z.B. Geldausgeben, Sex, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Fressanfälle);
  • Wiederkehrende Suiziddrohungen, -andeutungen oder -versuche oder selbstschädigendes Verhalten;
  • affektive Instabilität;
  • chronisches Gefühl der Leere;
  • Schwierigkeiten, Wut oder Ärger zu kontrollieren;
  • vorübergehende, stressabhängige paranoide Vorstellungen;
  • schwere dissoziative Symptome.
  • Die nicht theoriegeleitete, sondern bewusst rein deskriptiv gehaltene Vorgangsweise im DSM bietet Möglichkeiten eines umfangreichen Wissensaustausches unter Forschern, selbst bei unterschiedlicher theoretischer Orientierung. Die einfache dichotomische Struktur erlaubt es, klare und auf einander abstimmbare Zuordnungen zu treffen. Trotzdem zeigt auch die kategoriale nosologische Herangehensweise verschiedene Schwächen. Die festgestellten Kriterien sind nämlich immer als provisorisch zu betrachten, sind sie doch das Ergebnis einer stetigen möglichen Veränderung in den Forschungsergebnissen. Es gibt außerdem einen hohen Prozentsatz an Co-Diagnosen, insbesondere bei der Persönlichkeitsstörung Borderline. Borderline wird oft in Komorbidität mit anderen Störungen der Achse I oder II diagnostiziert, wie Stimmungsstörungen, Störungen durch Substanzmissbrauch, Essstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen und Aufmerksamkeitsstörungen/Hyperaktivität. Dies wirft die Frage auf, ob „Borderline“ mit diesen klinischen Kriterien überhaupt eine eigene Kategorie bilden kann. Dazu kommt, dass sich die Patienten, die man als Borderline bezeichnen würde, in einem polyätiologischen System manchmal als so heterogen herausstellen, dass man sich die Frage stellt, ob es nicht zu artifiziell ist, sie alle einem einheitlichen Begriff unterzuordnen.



    Die dimensionale Herangehensweise


    Die dimensionale Herangehensweise an die Diagnose bietet einen gewissen Ausgleich zu den Schwächen der kategorialen Klassifizierung. Sie beschreibt einen quantitativen statt eines qualitativen Unterschieds zwischen Gesundheit und Krankheit, der anhand von Grenzwerten festgestellt wird. Diese können als Verweis auf die psychische Dysfunktionalität verstanden werden, die entlang eines Kontinuums gemessen wird.


    Die vorher beschriebene nosologisch-kategoriale Beschreibung basiert auf einem anderen, einem monokausalen Prinzip. Demzufolge werden verschiedene Individuen unter derselben diagnostischen Kategorie erfasst, wenn sie nur eine einzige Bedingung erfüllen: sie müssen dem Kriterienkatalog entsprechen. Im Unterschied dazu maximiert die auf dem idiographischen Prinzip basierende dimensionale Auffassung die interpersonellen Unterschiede. Jedem Individuum wird ein genauer Punkt in einer Dimension zugeschrieben, wodurch es sich von allen anderen Individuen unterscheidet.


    Unterschiedliche Forschungen mit entsprechenden Testinstrumenten zeigen, dass bei Borderline-Patienten höhere Werte in einigen dimensionalen Aspekten vorliegen können, wie etwa im Suchen nach Neuheit, in der emotionalen Instabilität und Impulsivität. Trotz der ermutigenden Forschungsergebnisse steht heute noch kein dimensionales nosologisches System zur Verfügung, das empirisch validiert wäre und den Bedürfnissen der klinischen Praxis entspricht. Dazu tragen die Vielschichtigkeit der Verfahren, die Schwierigkeiten aufgrund der Heterogenität der theoretischen Modelle (die manchmal die gleiche Bezeichnung für nicht überlappende konzeptionelle Definitionen benutzen) und das sehr junge Alter der Disziplin bei. Außerdem beziehen sich die dimensionalen Modelle generell auf die Typenlehre, während man in jüngerer Zeit Persönlichkeitstheorien entwickelt hat, die mehr auf prozessualen als auf dimensionalen Aspekten basieren (Prozess, Verlauf, Entwicklung), was die Untersuchung der zu erforschenden Variablen, die Testverfahren und die Techniken für die Datenanalyse als extrem problematisch erscheinen lässt.



    Die ätiopathogenetische Herangehensweise


    Bei der ätiopathogenetischen Herangehensweise haben verschiedene theoretische Modelle einen Bestimmungsversuch unternommen, um die „Kernstörung“, also das, was als Grund des Borderline-states angesehen werden kann, zu bestimmen. Man sucht darin Unterscheidungsmerkmale nach nosologischen Gesichtspunkten, wodurch sich die Störung von anderen Psychopathologien unterscheidet. Beispielsweise würde in der spezifischen Betrachtung von Marsha M. Linehan (2001) der pathognomonische Kern der Störung in der Dysfunktionalität des emotionsregulierenden Systems liegen. Die emotionale Verletzbarkeit des Patienten (seine ausgeprägte Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen, die hohe Intensität der Emotionen und das verzögerte Abklingen zur emotionalen Ausgangslage) sei biologischen Ursprungs. Sie stünden in einer Feedback-Schleife mit einer invalidisierenden Umgebung, d.h. mit einer Umgebung, in der der Ausdruck inniger Gefühlzustände nicht nur ignoriert und als falsch zurückgewiesen werde, sondern auch oft missachtet und sogar bestraft werde. Das wiederum wirke sich stark störend auf die Fähigkeit aus, die eigene emotionale Welt anzuerkennen und zu regulieren. Ausgehend von einer verhaltenskognitiven theoretischen Einstellung, basierend auf den Hauptpostulaten der dialektischen Philosophie, deutet Linehan das Ausdrucksverhalten der Borderline Störung als Scheitern der individuellen Fähigkeit, die paradoxen und gegensätzlichen Aspekte der Realität zu synthetisieren. Demgemäß sieht sie als Aufgabe der Therapie, zum Aufbau neuer Bedeutungen beizutragen, um die psychischen Fixierungen zu lösen und den psychologischen Entwicklungsprozess des Menschen anzuregen.


    Im weiteren verhaltenstherapeutischen und kognitiven Umfeld stellen Beck et al. (1990; 1996) als Hauptkern der Pathologie drei geistige Postulate fest: Die Vorstellung von einer Welt, die feindlich und gefährlich ist; die Überzeugung, besonders zerbrechlich und verwundbar zu sein; und schließlich der Gedanke, unannehmbar und deswegen zum Verlassenwerden verdammt zu sein.


    Wie schon erwähnt, beschreibt Kernberg einen Konflikt als Kernstörung, der die Abwehrspaltung der Selbstrepräsentanz und der Objektrepräsentanz so zum Einsatz bringt, dass gegensätzliche Paare entstehen. Andere Autoren haben jedoch im Rahmen der in der Psychoanalyse entwickelten Theoriemodelle spezifische Defizite als Ursprung des Borderline-Zustandes betont: z.B. Defizite in der narzisstischen Entwicklung (Kohut 1971); Fehlen einer inneren Objektvorstellung mit Holding-Funktion (Adler, Buie 1979); Defizite in der Entwicklung der metakognitiven Funktionen (Fonagy et al. 2002); Defizit der mütterlichen Aufnahmefähigkeit (in ihrer Rolle als „sicherer Hafen“) als Auslöser des Konfliktes zwischen Unabhängigkeits- und Schutzbedürfnissen (Masterson, Rinsley 1975).


    Aufs erste scheint die ätiopathogenetische Herangehensweise die Borderline Störung ganz unterschiedlich und mit anderen Modellen unvereinbar darzustellen. Auf diesen unbefriedigenden Sachverhalt Bezug nehmend brachte G. Liotti (1994; 2001) einen interessanten Ergänzungsvorschlag ein, der trotz der unterschiedlichen Kernstörungen ein gemeinsames Entwicklungselement enthält. Er sieht dieses in der „desorganisierten Bindungsweise“ mit entsprechenden daraus resultierenden „inneren Arbeitsmodellen“. Im Unterschied zu anderen möglichen Bindungstypen (sichere, unsicher vermeidende, unsicher ambivalente Bindung) ist diese Bindungsart von einer besonderen Inkohärenz des inneren Erlebens und der Verhaltensweise des Kindes gegenüber der Bezugsperson gekennzeichnet, die man als „strange situation“ (Ainsworth 1978) bezeichnen kann.


    Einige Studien weisen auf eine Korrelation zwischen der desorganisierten Bindungsweise und nicht verarbeiteter Trauer und Traumata in einem Elternteil hin, die diesen unvorhersehbar, gewalttätig bzw. lediglich unsicher und ängstlich machen. „Frightened/frightening“ Eltern, d.h. „selbst-unsicher oder Angst auslösend“ (nach der Definition von Main und Hesse 1990; 1992) können einen unversöhnlichen Konflikt innerhalb des Kindes auslösen, das zwischen dem Bedürfnis nach schützender Nähe und dem Bedürfnis nach Abwendung vom gefährlichen und bedrohlichen Elternteil schwankt. Die „inneren Arbeitsmodelle“ („Internal Working Models“, Bowlby 1976) sind Strukturen der impliziten Erinnerung, in denen die Beziehung zwischen Selbst und dem Elternteil enthalten sind. Sie prägen den spezifischen Bindungstyp. In der desorganisierten Bindungsweise pendeln sie in inkohärenter Weise zwischen gegensätzlichen Paaren, bestehend aus „Retter“ und „Opfer“ bzw. „Verfolger“ und „Opfer“. Die Vereinbarkeit des von Kernberg vorgeschlagenen Konzepts der Spaltung der Objektrepräsentanzen und dem gegensätzlichen und widersprüchlichen Stil der inneren Arbeitsmodelle, die die desorganisierte Bindungsweise kennzeichnen, scheint evident zu sein. Darüber hinaus haben einige Forschungen bei Kindern im Schulalter, die eine solchen Elternbindung aufwiesen, einen deutlichen Zusammenhang mit geringen bzw. dysfunktionalen metakognitiven Fähigkeiten festgestellt. Dies sind Fähigkeiten, die auch eine Voraussetzung sind, um Emotionen regulieren zu können.


    Zusammenfassend erscheint ein Modell, das den ätiopathogenetischen Kern des Borderline-Verarbeitungsmodus in der desorganisierten Bindungsweise sieht, mit den psychoanalytischen als auch verhaltenstherapeutisch-kognitiven Theorien vereinbar.


    Obwohl als Kernstörung der Borderline Pathologie angesehen, ist die desorganisierte Bindungsweise jedoch nicht der einzig denkbare Risikofaktor. Einige Studien geben nämlich insgesamt fünf mögliche ätiopathogenetische Faktoren an: Hirnschäden, hauptsächlich im orbito-frontalen limbischen Bereich; Merkmale genetischer Veranlagungen; dysfunktionale Verhaltensweisen, die sich in einem problembesetzten familiären Milieu entwickeln; exogene bzw. endogene Faktoren, die jene kognitiven Funktionen stören, die für die Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur erforderlich sind; Sozialfaktoren, wie der Zerfall der traditionellen Werte, ein Merkmal der heutigen westlichen Gesellschaft. Ätiopathologisch erscheint es schließlich wichtig, sich nicht auf eine zu einfache lineare Kausalität zu beziehen, sondern auf eine multifaktorielle, kreisförmige Wechselwirkung bio-psycho-sozialer Faktoren (Paris 1995).



    Das existenzanalytische Verständnis



    In diese Sichtweise fügt sich auch das Theoriemodell der Existenzanalyse (EA) ein, das wichtige Konzepte und Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit den bisher erwähnten Theorien bietet. Der Existenzanalyse (Längle 2008) zufolge ist die Borderline Persönlichkeitsstörung eine klare, von anderen abgrenzbare diagnostische Einheit. Die Störung liegt primär auf der Ebene des Selbst-Seins. Während der gesunde Mensch über eine Authentizität und eine mehr oder weniger klare Identität verfügt, fehlt den Borderline Patienten beides. Der Borderline Patient versucht, diesen Mangel in der Ebene des Selbstseins durch Beziehung zu anderen Menschen bzw. Stimulierung der Beziehung zu sich selbst über das Fühlen bzw. Stimulieren von Affekten zu überwinden. Das Leiden der Borderline Psychopathologie besteht in einem unerträglichen Schmerz ob dieses Verlustes bzw. Nicht-Fühlens seiner selbst und der Erlebnisse, die dazu führten.


    Der Schmerz verursacht eine Spannung, die als selbstzerstörerisch erlebt wird, da sie die ICH-Identität durch die Unerträglichkeit des Schmerzes auflöst. Die existentielle Leere (als Folge des dissoziierten Leidens und Schmerzes, mit der eine innere Taubheit einhergeht) ist ein Symptom für das Fehlen eines intimen Verhältnisses zu sich selbst. Ist der Patient alleine, geht ihm das Gefühl für sich verloren. Aus sicher heraus kommt er nicht in Beziehung zu sich, er schafft keinen „autogenen“ Selbstbezug. Er braucht intensive Beziehungen zu anderen Menschen, die ob der fehlenden inneren Verankerung instabil sind, oder er benutzt manipulative, am eigenen Körper, am Eigentum, an sozialen Beziehungen usw. ansetzende „Machen“schaften (z. B. sich Schneiden, sich Betrinken, Erbrechen, Ausgeben großer Summen, Orgien).


    Im Unterschied zu hysterischen, narzisstischen oder paranoiden Patienten ist der Borderline-Patient nicht an aufsehenerregenden Aktivitäten interessiert, noch kämpft er für Wertschätzung oder will er sich vor Nachstellungen in interpersonellen Beziehungen schützen. Er interessiert sich einzig dafür, wie er zu einem Sich-selbst-spüren-Können kommen kann. Er ist bemüht, sich durch die Beziehung zu seinem Körper, zur eigenen Psyche oder zu anderen Menschen ein „ Selbst “ aufzubauen. Wegen der fehlenden inneren Stabilität haben die Aktionen aber impulsiven Charakter. Dem existenzanalytischen Strukturmodell zufolge handelt es sich beim Borderline-Leiden um eine Störung des Personseins. Es gelingt dem Ich nicht, eine Authentizität zu generieren (dritte Grundmotivation: fehlendes Gefühl für ein „Sosein-Dürfen“ – cf. z.B. Längle 2002a, b; 2008).


    Das Spezifische an der Borderline-Ausgestaltung dieses Leidens besteht nun darin, dass es im Zusammenhang mit Störungen in Beziehungen und im Gefühlsleben zu tun hat. Folglich wird genau über diesen Weg versucht, ein Selbst zu generieren. Die Aktivitäten richten sich daher auf Beziehungs- und Gefühls-Thematiken (entsprechend der zweiten Grundmotivation des Strukturmodells, wo es um das „Leben-Mögen“ geht, somit um die Beziehungsfrage zum Leben – vgl. ebd.). Der Borderline-Patient würde gerne sein Leben fühlen , aber er hat kein Gefühl dazu. Stattdessen empfindet er, kein Recht dazu zu haben für eigenes Erleben. Da dies für ihn nicht selbstverständlich ist, bedarf des Kampfes, der Leistung. Er fühlt sich zutiefst nicht erwünscht und nicht geliebt. Da diese Gefühle in seinem „Kern“ sitzen, resultiert daraus der Verlust des eigenen Selbst. Darin wird existenzanalytisch die tiefe Ursache der Spaltung gesehen: Dazusein, ein Leben zu haben, aber sich nicht lebendig zu fühlen. Die Spaltung betrifft nicht nur das ICH in Bezug auf sich selbst, sondern auch das ICH in Bezug zur Welt. Der Borderline-Patient lebt in einer widersprüchlichen und gegensätzlichen Welt – zumeist begann das mit den Eltern, die z.B. gegensätzliche Pläne und Erziehungsweisen ihm gegenüber hatten. In dieser gespaltenen und unberechenbaren Welt ist sein eigenes ICH genauso gespalten und haltlos-impulsiv herangewachsen. An Stelle von entschiedenem Handeln dominiert das impulsive, heftige, vom Schmerz stimulierte und ihn überwinden wollende Reagieren.


    Im Unterschied zur Psychoanalyse wird hier die Spaltung nicht als Ursache der Entwicklung einer Borderline-Struktur, sondern als Folge einer Grunderfahrung (Primärerfahrung) von Spaltung von sich selbst und der erlebten Realität, von autochthonem und sozialem Selbst angesehen. D.h. dass in diesem phänomenologischen Modell die Borderline-Störung nicht durch den Einsatz und die Persistenz unreifer Abwehrmechanismen entsteht (wie Kernberg meint), sondern mit realen Erfahrungsmomenten anfängt. Der Patient erlebt eine Urform des Gespaltenseins in der genuin-phänomenologischen Wahrnehmung, die ihm als Essenz durch all die widersprüchlichen Erlebnisse hindurch entgegenkommt: „Sei! (funktioniere bzw. ich brauch dich für mich) - aber du darfst nicht leben !“


    Ist diese äußere Wahrnehmung schon in sich gespalten und das eigene Leben unterdrückend, so kommt neben diese soziale Selbstwahrnehmung die autochthone, ursprüngliche, die das Leiden des Gespaltenseins erst recht zuspitzt: nämlich das eigene Gefühl „ich möchte leben – ich möchte ich sein!“. Dieses Aufbäumen von eigenem Lebensanspruch, der der anhaltenden Unterdrückung immer wieder erliegt, stellt eine Grundlage der Impulsivität in diesem Leiden dar. Das ICH und seine Welt sind also von vornherein geteilt – nicht erst durch die Schutzreaktionen. Diese verstärken das Geteiltsein jedoch.


    Insbesondere spielt hier der Aktivismus des Schaffens von Bildern von der Wirklichkeit eine Rolle. Durch Idealisierungen der Wirklichkeit werden störende, unliebsame Bereiche der Wirklichkeit ausgeblendet. Das Gespaltensein des Selbst setzt sich in der Schaffung solcher Bild von der Wirklichkeit fort. Das gespaltene Selbst hat nämlich nicht die Fähigkeit, die Wirklichkeit auch mit den leidvollen, „negativen“ Seiten anzunehmen (Kernberg spricht von fehlender Verdrängungskapazität). Diese Bilder stehen für die Wirklichkeit. Wenn die Realität nun eine solche Vorstellung der Wirklichkeit bedroht, gerät das „Selbst“ in Gefahr. Um sich zu schützen, wird wieder die Spaltung eingesetzt: Es wird das bedrohte Bild ausgetauscht gegen ein anderes Bild, das möglichst weit weg von einer neuerlichen Korrektur durch die Realität angesiedelt ist: nämlich am gegenteiligen Pol. So kommt es zu dem bekannten Kippen der Bilder ins Gegenteil und zu der wohlbekannten Beziehungsinstabilität.


    Neben dem fehlenden bzw. uneinheitlichen Gegenüber (entsprechend dem Defizit in der 3. GM) und psychotraumatischen Erfahrungen in Beziehungen zu wichtigen anderen Menschen (entsprechend dem Defizit in der 2. GM) werden auch in der Existenzanalyse weitere Faktoren als Mit-Ursachen angegeben, die zumindest teilweise vorhanden sein müssen, damit sich die Störung entwickeln kann: Vererbungsfaktoren und Disposition; Substratstörungen des Gehirns, auch in der Folge von Sucht; Lernprozesse; manipulatives Elternverhalten; früher Verlust von Hauptbezugspersonen, des Dialogs und weiterer gravierender Deprivationserfahrungen in der Entwicklungsphase etc.


    Erzählungen von Borderline Patienten [2]


    Träume, ihr bringt sie um. Ich würde gerne betrunken sterben, um vor das Tor der Hölle zu erbrechen.


    (Ein Betroffener)


    Ich bin Borderliner


    „Ich werde versuchen, in einer einfachen Art zu erklären, was es heißt, Borderliner zu sein. Borderliner zu sein ist wie auf einem dünnen Draht zu gehen … man ist in der Schwebe und man riskiert immer zu fallen. Es bedeutet Selbstverletzung, Stimmungsschwankungen, Essstörungen, ambivalente Gedanken, Verlassens-Angst, Zornausbrüche und unterdrückte Wut, Verlangen nach ständigen Bestätigungen, Verlangen nach Aufmerksamkeit und Liebe. Es ist ein großes Chaos im Kopf. Zuerst denkst du so, zwei Minuten später anders. Und dein Glück ist von den anderen abhängig. Boderline ist, eine innere Leere zu haben, die keinem Menschen und nichts jemals gelingen wird, zu füllen. Es ist der Versuch, dem Leben um jeden Preis einen Sinn zu geben, aber es nicht zu schaffen, diesen zu finden. Es ist Laufen ohne ein Ziel, und es nicht zu schaffen, irgendwo anzukommen. Und die wenigen Male, die es dir gelingt, merkst du, dass es dir nicht reicht und so läufst du weiter.“


    Wut, Schwankungen, Einsamkeit


    „Ich erschaffe Träume, ihr bringt sie um. Ich würde gerne betrunken sterben, um vor das Tor der Hölle zu erbrechen.“


    „Mein Freund explodiert üblicherweise gegenüber demjenigen, den er liebt. Zu bestimmten Zeiten seines Lebens behandelte er mich und seine Verwandten sehr schlecht, aber zur selben Zeit war er fähig, zu Bekannten sehr lieb zu sein.“


    „Allein zu bleiben ist unsere Zukunft. Was mich betrifft, fange ich schon an, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Ich entschuldige mein Verhalten nicht, aber seien wir offen, es ist klar, dass wir wegen unserer Probleme (vor allem wegen der absurden Stimmungsschwankungen) nie eine stabile Beziehung haben werden (egal ob Liebe oder Freundschaft). Wer wäre bereit, sich die Mühe zu machen, hinter uns und unseren schlechten Launen daherzugehen? Niemand, weil wir auch die geduldigsten Menschen dieser Welt verrückt machen.“


    „Sogar die Psychologin hat mir zu verstehen gegeben, dass es wirklich schwierig war, mit mir zu tun zu haben. Also, was habe ich dann, Dummkopf wie ich bin (um nichts anderes zu sagen), gemacht? Anstatt darüber nachzudenken und zu versuchen, mich zu ändern, bin ich weggegangen, bin weggeblieben von der Therapie, mit großem Bedauern, sogar mit Verzweiflung würde ich sagen. Man braucht nicht zu erwähnen, dass ich mich auch in den Beziehungen außerhalb der Therapie schlecht verhalten habe, indem ich manche Leute verletzt habe. Um nicht die vielen Katastrophen in der Arbeit aufzuzählen, wo ich oft impulsive Entscheidungen traf, die ich jetzt nicht weiter erzählen möchte und die nicht wieder gut zu machen sind. Manchmal denke ich, dass Leute wie wir ein großes Trauma bräuchten, um mit den Füßen auf den Boden zu kommen. Vielleicht lernten wir dann, die anderen und auch uns selbst zu respektieren.“



    Manipulation und Antisozialität


    „Nein! Manipulation, wie ihr das nennt, ist eine Notwendigkeit. Ein Bedürfnis nach Liebe. Ich tue alles, um zu gefallen, weil ich die Leere, die ich in meinem Herz spüre, ausfüllen muss. Die Leere, die man fühlt, ist nichts anderes als ein Mangel, den man, wie auch immer, zu füllen versucht, um jeden Preis. Einmal schrieb ich in einem Brief „ … wenn Ihr mit einem Blinden redetet, würdet Ihr euch nie über ihn aufregen, weil er nicht verstehen könnte, wenn Ihr versuchtet, ihm die Sonne zu beschreiben. Es ist physiologisch, nicht verstehen zu können, zumindest bis zum Äußersten, manche Situation, für den, der sie nie durchlebt hat…“


    „Das schreckliche Bedürfnis nach Liebe, das man in sich trägt, bringt einen zu extremen Taten. Ich glaube, es ist nicht Manipulation. Ich manipuliere niemanden. Ich habe ganz einfach ein Verhalten, das den anderen dazu bringt, mir nachzukommen. Ich weiß nicht, warum. Ein gewöhnliches Gegenüber alleine reicht nicht aus, weil man dann zum Schluss immer noch nicht weiß, wohin man will. Es scheint so, als ob man dann stehen bleibt. Und deshalb braucht der Bordeliner Verwicklung. Wenn das fehlt, dann fehlt alles. Man braucht immer Input, Anreize. Im allgemeinen äußern Menschen ihre Gefühle. Ich stecke meinen Weg entsprechend ab.“


    „Der Borderliner braucht /wünscht sich / hat Lust, sich von den anderen zu unterscheiden. Er will sich nicht wie eine Nummer fühlen. Er braucht dauernd Gewissheit, deshalb prüft er manchmal die anderen, manipuliert (bewusst oder unbewusst). Für die, die uns nahe stehen, ist es hart, ich weiß.“


    „Ich hatte einen Borderliner als Freund, der nichts anders tat, als mir online seine Räusche sowie sein Sich-selbst-Schneiden zu beschreiben. An einem Tag ging er so weit, mir zu sagen: jetzt schneide ich mir in die Venen. Da platzte mir der Kragen, und ich sagte ihm, es sei genug. Ich wollte nicht mehr Zeugin dieser Momente und auch nicht seine Komplizin sein, schließlich nutzte es wenig, was immer ich auch sagte, um ihm zu helfen. Er musste verstehen, was er mir antat, indem er mich aus der Ferne machtlos teilnehmen ließ, in der Beobachtung seiner selbstschädigenden Momente. Ich weiß, ich war vielleicht sehr extrem, aber ich war wirklich an der Grenze meiner Fähigkeit ertragen zu können. Ich glaube, es muss sicher sehr schwer sein, Therapeut solcher Patienten zu sein.“


    „Es spielt keine Rolle, ob Prof. C. eine Ähnlichkeit zwischen dem Kriminellen und einem Borderliner behauptet, wenn er über Antisozialität redet. Für mich ist sie nur blühende Phantasie. Das Hauptmerkmal, das den antisozialen Patienten vom Borderliner unterscheidet, ist die mangelnde Reue, das Fehlen des schlechten Gewissens. Ein Patient, oft kalt in der Erzählung der Details, auch von Gewaltakten, wenn nicht sogar von einzelnen oder Serienmorden. Sie zeigen ein reizbares und aggressives Verhalten gegenüber anderen und sind zynisch und verachtend gegenüber Empfindungen und dem Leiden anderer Menschen. Das passiert einem Borderliner sicher nicht. So, und jetzt erklärt mir, was das mit Antisozialität zu tun hat. Vorher im Autobus habe gerade gedacht, dass wir ja Kriminelle sind, aber nur gegenüber uns selbst. Wir tun nur uns selber weh. Glaube ich.“


    „Die einzigen gleichen Merkmale sind vielleicht die Impulsivität und die Unverantwortlichkeit. Aber Du darfst mir nicht einen Borderliner mit einem Kriminellen vergleichen. Ok, aber nicht alle! Jeder ist eine Welt für sich, manche tun es und manche nicht. Ich persönlich halte mich nicht für eine Kriminelle … noch nicht.“


    „Du kannst mir auch den Papst schicken. Krimineller oder nicht, das ist nicht der Punkt! Dahinter, glaub mir, verbirgt sich viel mehr. Aber, wenn man nur festmachen will, ob Krimineller oder nicht, lässt man den Rest – was viel wichtiger wäre – aus.“


    „Ich hatte eine Beziehung mit einem Borderline-Jungen. Am Anfang: Liebe, Bemühungen, dauernde Aufmerksamkeiten. Er war‘s immer, der angerufen hat und der das Fortgehen entschied. Das erste Mal, dass ich ihm Ausgehen vorgeschlagen habe, hat er es mit Mühe akzeptiert und während des ganzen Abends ständige Stimmungsschwankungen gezeigt. Am Ende des Abends sagte er mir, dass er nichts Ernstes mit mir wolle. Nach einer Weile hat er mich wieder angerufen, und wir haben uns versöhnt. Von da an waren seine Schwankungen alltäglich und tief verletzend. Die Vielfalt seiner Reaktionen war groß: Es ist deine Schuld (nicht wiederzugebende Beschimpfungen), du sollst sterben . Er machte so weiter, bis er eines Abends bei mir zu Hause hereinkam und begann, sich Beine, Rücken und Brust zu ritzen. Nach einem Psychiatrieaufenthalt näherte er sich mir wieder, aber er setzte die üblichen Schimpftiraden fort und fuhr fort, mich zu kränken. Ich höre nun auf, zu schreiben, weil ich erschöpft bin. Ich weiß, meine Frage ist doof, aber was soll ich tun? “


    „Ich habe eine 34jährige Frau mit dieser Störung kennengelernt, und ich habe mich zu einer Beziehung hinreißen lassen. In den ersten Monaten gingen die Dinge trotz mancher Schwierigkeiten und mit viel Geduld gut voran, und selbst ihr Psychiater hatte eine Verbesserung bemerkt, die mit der Beziehung zusammenhing. Dann, vor einem Monat verließ sie mich plötzlich und entwickelte immer mehr Symptome einer Depersonalisation, Depression und tägliche Fressattacken. Ich versuchte, mich ihr wieder zu nähern, aber ihre Antwort drauf war, dass meine Person sie hindern würde, zu sich selbst zu finden und sich selbst zu lieben. Mein Selbsterhaltungstrieb sagt mir, ich soll es sein lassen, aber ich weiß, ich würde dann ein Leben mit Schuldgefühlen und Gewissensbissen haben. Was ich nicht verstehe, ist, aus welchem Grund sie die Beziehung beendet hat, gerade weil sie eine Verbesserung bewirkt hat. Ich denke, ein möglicher Grund könnte in der Konfrontation mit einer Person liegen, die sie nicht beherrschen konnte und die aber gleichzeitig sie nicht beherrschte. Ich stelle mir weiter tausend Fragen, aber ich finde keine Antworten.“


    „Ich bin seit vielen Jahren mit einem Mann befreundet, der eine Borderline Diagnose hat. Wir teilen etwas gemeinsam: die Homosexualität. Er äußert sich immer mit Hammer-Sätzen mir gegenüber, um mich zu demütigen. Viele Male hat er natürlich unabsichtlich Sätze losgelassen, die mich zutiefst gedemütigt haben. Ich hätte ihn geohrfeigt, hätte ich nicht von seiner psychischen Lage gewusst. Die letzte Episode: wir hatten uns vor seiner Arbeitsstelle verabredet, und als er kam, sagte er mir liebevoll , es wäre besser, wir würden uns woanders treffen, weil seine Vorgesetzten nicht wollten, dass er sich mit fremden Leuten zeigt. Die ganzen Skrupel hindern ihn aber nicht, Anzeigen mit Fotos auf Hard-Core-Seiten zu setzen oder detaillierte Erzählungen seiner Sexbekanntschaften im Netz zu machen. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich verhalten soll!“



    Der Borderliner und die Psychologen


    „Die Psychologen lassen sich fast nichts anmerken. Und das macht wütend. Lasst locker! Man hat große Angst, zu erfahren, was ihr wirklich fühlt, was wir in Euch auslösen. Ein bisschen aus Narzissmus, ein bisschen um zu wissen, wie man weiter handeln soll. Leute, was für eine Katastrophe! Gerade schreibe ich über vieles, aber wer weiß, ob es für alle so ist. Bei einem Borderliner sollte man, kurz gesagt, die Setting Regeln ganz abschaffen. Siehst Du, genau … ich habe übertrieben, nicht abschaffen sollte man Sie, aber wenigstens locker machen“.


    „Ein Gefahr für den Psychotherapeuten, wenn er eine Person mit dieser Art von Störung behandelt, könnte, glaube ich, das Risiko sein, öfter aus den Rahmen zu fallen und manchmal, ohne dass er es merkt, auch Regeln zu verletzen. Nun schreibe ich einfach los, ohne nachzudenken. Aber, wie L. würde ich auch gerne die Meinungen anderer Menschen mit einer Borderline Diagnose lesen. L. hat einmal sich selbst und mich gefragt: wie können wir Euch helfen? Ihr müsst uns entgegenkommen. Ich erkläre es Euch. Aber ich rede für mich, denn ich weiß nicht, ob dies die Gedanken von allen sind. Es reicht eine normale Therapie nicht. Meiner Meinung nach hilft es gar nicht bei Borderlinern. Man will alles und sofort, und eine normale Therapie braucht viel Zeit, geradezu Jahre. Für das, was mich betrifft, wenn ich nicht ab sofort eine Verbesserung sehe, dann denke ich, es ist nicht zu gebrauchen. Also hört man auf, weil man es satt hat. Dann kommt die Inkonsequenz dazu. Einmal geht man hin, einmal wieder nicht. Wie halt der Wind weht. Deshalb bringt man wenig zustande. Dann gibt es noch die Gewissheiten. Man wartet ununterbrochen auf Zeichen Eurer Zuneigung. Man muss das Gefühl haben, Ihr macht es, weil Ihr an die Sache glaubt und nicht wegen des Geldes. Man bildet sich ein, einmalig sein zu wollen, deshalb macht man alles, um unvergesslich zu bleiben, und unvermeidlich schafft man es auch. Ich weiß nicht wie, aber es gelingt immer. Weil man übertreibt, und auch weil man im Grunde wirklich besonders ist. Schwierig aber zärtlich. Auch in der Aggressivität. Ich weiß nicht genau, was es ist, das anzieht… aber man gewinnt uns immer lieb. Eine normale Therapie mit diesem Typ vom Patienten kann gar nicht funktionieren. Ich habe nunmehr die Gewissheit. Weil man sich immer als besonders fühlen will, anders als alle andere Patienten, aber vor allem hundertprozentig geliebt. Also warum nicht eine Ausnahme von der Regel machen? Was weiß ich, z.B. gemeinsam Pizza essen gehen. Weißt Du, was für ein Spaß das wäre? Und währenddessen kann man plaudern, ohne dass es einem wie ein Verhör vorkommt. Es wäre sanfter, nicht so schwer wie die Sitzungen. Außerdem, warum redet Ihr nicht über Eure Gefühle, und über alles, was Euch im Kopf vorgeht? Lasst Euch gehen … im schlechtesten Fall wird es verletzend. Manchmal macht die Ehrlichkeit verzagt, aber sie tut auch gut, weil sie die Auge öffnet. Ich hab’s, man braucht jemand, der uns die Augen öffnet, aber schnell, sonst verlieren wir die Lust daran. Man braucht eine besondere Beziehung, keine eintönige. Aber wenn man so vorgeht, würde man gegen die Setting-Regeln verstoßen, daher zum Teufel! Ich weiß es nicht, es ist wirklich eine Katastrophe. Es bleiben einem die Medikamente, aber es gibt Leute, die sie nicht nehmen wollen, auch wenn sie es dringend bräuchten. Es ist schwierig, ich verstehe es, weil man nicht wenige Probleme zu bewältigen hat: Essensprobleme, Selbstverletzungen, Wut, Überempfindlichkeit, Identitätsprobleme, Unbeständigkeit, Stimmungsschwankungen usw. Man verliert sich. Zusammen, leider. Man müsste zuerst wissen, wo man anfängt und wo man hin will. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass man einen Teil ordnet, und dass, während man sich dann einer anderen Sache widmet, der geordnete Teil wieder ins Schwanken gerät.“



    Literatur


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    Anschrift der Verfasser:



    Dott. Lucio Demetrio Regazzo


    Psicologo Psicoterapeuta


    Direttore Associazione IAR Esistenziale


    Via Sant'Agnese 38


    I - 35030 Caselle di Selvazzano


    info@regazzo.org


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    PD Dr.med.Dr.phil. Alfried Längle


    Ed. Sueß-Gasse 10


    1150 Wien


    alfried.laengle@existenzanalyse.org





    [1] Das generische Maskulinum umfaßt Frauen und Männer in gleicher Weise.


    [2] Alle hier wiedergegebenen Erzählungen der Borderline Personen sind echt und nur insoweit verändert, dass keine Erkenntlichkeit gegeben ist und die Flüssigkeit des Textes gewahrt wird. Die Originalkopien der einzelnen Schilderungen liegen vor.